„Vätergeschichten“ besteht aus Fingerabdrücken von Vater-Kind-Beziehungen.

Grundidee

„Vätergeschichten“ besteht aus Fingerabdrücken von Vater-Kind-Beziehungen. (Corinne Bromundt, Illustratorin)

Im Auftrag von FamOS (Familien Ost-Schweiz) und männer.ch entwickelte Mark Riklin, Begründer der „Meldestelle für Glücksmomente“, anlässlich des 6. Vätertags 2012 das Projekt “Vätergeschichten“: Männer, Frauen und Kinder erzählten in öffentlichen Schreibstuben und ausgewählten Unternehmen von ihren Erinnerungen an ihre Väter, Grossväter oder an ihr Vatersein. Bis zum Vätertag 2013 ist ein Archiv aus 200 Szenen entstanden. “Vätergeschichten“ ist auf mehrere Jahre angelegt und verfolgt den Ansatz Väterlichkeit sowohl in der Öffentlichkeit als auch in Betrieben an kleinen Geschichten zu veranschaulichen. Dadurch soll ein Gegenpol zur problemorientierten Darstellung von Väterlichkeit entstehen. Biografische Erinnerungen korrigieren stereotype Bilder, zeigen die Vielfalt von Väterlichkeit und regen an, sich Zeit fürs Vatersein zu nehmen.

Aus dem Geschichtenarchiv

Sekundenauftritt

1955, 1.-Mai-Umzug durch Zürich. Ich stehe am Strassenrand und beobachte die Gewerkschafter, wie sie an mir vorbeiziehen. Plötzlich zeigt meine Mutter auf einen gross gewachsenen Arbeiter und sagt: „Dort hinten links, das ist dein Vater.“ Ein paar wenige Sekunden sehe ich ihn vor mir, bereits zwei Minuten später hätte ich ihn nicht wiedererkannt. Es sollte die erste und einzige „Begegnung“ mit meinem Vater bleiben. Als er mit 65 Jahren stirbt, erfahre ich in der Todesnachricht, dass er ein Leben lang nur 400 Meter von mir entfernt gewohnt hat.

  • Sohn: 1944, Dachdecker, Chauffeur
  • Vater: etwa 1920, Maurer
  • Jahr der Szene: 1955

Es ist wie Mathematik

Sonntags. Ohne Arbeitskleidung. Entspannen, ruhen, da-sein, Gemeinsamkeit… Feines Sonntagsessen am gedeckten Tisch in der Küche. Mittagsschlaf. Und Vorfreude.

Vater macht seinen Mittagsschlaf auf der Couch. Wir Kinder spielen. Wartend auf den Moment, bis er wieder aufwacht. Geht es uns zulange, sorgen wir dafür, dass er wach wird. Wir steigen auf ihn rauf, rammeln, bis er aufgibt, zum Buffet geht und endlich das Spiel herausnimmt. Zu viert setzen wir uns an den Tisch. Vater und einer von uns auf der Sitzbank. Die zwei anderen auf den Stühlen. Mutter macht nicht mit. Sie kann es nicht, und das ist auch gut so. Vater gehört in diesem Moment ganz uns.

Konzentration. Karten austeilen und spielen. Schieber. Meistens ich zusammen mit dem Vater gegen die Geschwister. Ich geniesse die Nähe und Wärme an diesen Sonntagen. Die Härte der Arbeitswoche ist fern. Ich lerne viel von ihm. Es ist wie Mathematik. Viel gesprochen wird nicht. Wenn, dann nur übers Spiel. Noch heute geniessen wir einen Jass zusammen. Konzentriert und ohne viele Worte.

  • Vater: 1933, Landwirt
  • Sohn: 1963, Sekundarlehrer- Spielpädagoge
  • Jahr der Szenen: 1973–1987 und immer wieder

 

Aufklärung im Kino

Mein Mann und ich gehen gemeinsam mit unserem Sohn Moritz ins Kino. Nach einem Toilettenbesuch kommt Moritz ganz aufgeregt zu uns zurück und bittet seinen Vater um einen Euro. Auf die Frage meines Mannes, wozu er denn das Geldstück brauche, antwortet Moritz, er wolle beim Automaten in der Toilette eine Packung Luftballons kaufen. Uns wird schnell bewusst, um welche „Luftballons“ es sich handelt. Genötigt durch die Situation, nutzt mein Mann den Anlass zur Aufklärung unseres Sohnes. Von Neugier gepackt inspiziert Moritz den Automaten erneut, doch diesmal genauer. Anschliessend kommt er voller Aufregung zu uns zurück. Für alle Kinobesucher unüberhörbar und entsprechend gestikulierend, fragt er seinen Papi, wozu denn der Erdbeergeschmack gut sei, wenn man mit dem eigenen Kopf gar nicht dahin gelangen könne.

  • Erzählerin: Sozialarbeiterin i.A. (1974)
  • Sohn (2000, Schüler)
  • Vater (1973, Betriebswirt)
  • Jahr der Szene: 2006

Nächste Lesung Vätergeschichten: Freitag 12. September 2025 im Integrationszentrum Wier in Ebnat Kappel

Vor einiger Zeit durfte ich im tisg-Integrationszentum Wier in Ebnat-Kappel bei unbegleiteten, minderjährigen Asylsuchenden berührende Vätergeschichten sammeln.

Diese Geschichten darf ich am 12. September 2025 von 19 bis 20 Uhr, anlässlich einer öffentlichen Lesung mit musikalischer Begleitung, im tisg Integrationszentrum Wier in Ebnat Kappel vortragen.

Sie sind alle zur Lesung und zum anschliessenden Apéro herzlich eingeladen!

Beste Grüsse & alles Liebe

Marcel Kräutli

Vätergeschichten-Lesung im Integrationszentrum Wier

 

Das Vätergeschichten-Feuer weitertragen

Liebe Leser:innen

Zwei Jahre sind es her, seit ich das erste Mal mit dem Archiv für Vätergeschichten in Kontakt kam. Ich durfte eine Vätergeschichtensammlung & -lesung rund um das Fest der Kulturen in St. Gallen organisieren.

Das Thema liess mich seither nicht mehr los. Zum einen beruflich, als Väterberater beim Ostschweizer Verein für das Kind, und zum anderen als Vater und Bezugsperson von drei Kindern, welche ich beim Aufwachsen begleite.

Geschichte und Geschichten begleiten mich, seit ich denken kann. Geschichte war mein Lieblingsfach in der Schule. Ich liebe es noch heute zu lesen und dadurch in andere Welten ein- und abzutauchen.

Ich bin überzeugt, dass das Erzählen von Geschichten – sogar schon vor der Geburt – eine wertvolle Grundlage für die Vater-Kind-Bindung schafft. Es eröffnet auch immer wieder besondere Momente der Zweisamkeit und bereichert damit sowohl das Vater- als auch das Kindsein. Im Wissen, dass das Erzählen von Geschichten bisweilen ziemlich fordern kann. Bei mir zum Beispiel dann, wenn das eine Kind immer genau die eine – wirklich partout keine andere – Geschichte erzählt haben will und auch keine – noch so kleine – Abänderung toleriert. Oder das andere Kind keine vorgelesenen Geschichten akzeptiert und in ihren Worten, «Gschichte usem Muul» (als Begriff für «frei erfundene Geschichten») hören möchte.

Überzeugt davon, dass es nicht die eine Väterlichkeit, sondern eben viele Formen von Väterlichkeit(en) gibt, bin ich beruflich sehr neugierig darauf zu hören, wie Väterlichkeit erinnert wird. Der Frage nachzugehen, ob es generationelle und kulturelle Unterschiede gibt, oder vielmehr herauszufinden, wo die Gemeinsamkeiten liegen, reizt mich.

Darum freue ich mich sehr, das Vätergeschichten-Feuer von Mark Riklin übernehmen zu dürfen.

Ich bin geehrt und dankbar, dieses Feuer weitertragen zu dürfen. Die Glut zu hüten, von Zeit zu Zeit zu schüren und mit neuen, inspirierenden Geschichten lebendig zu halten.

Ich freue mich auf diesen Weg, viele spannende Begegnungen und noch mehr bereichernde Geschichten!

Herzliche Grüße
Marcel Kräutli

Marcel Kräutli ist neuer Leiter des Archivs für Vätergeschichten

Ein Sonntag im Juni 2013. Dicht gedrängt sitzen die Besucher:innen am nationalen Vätertag auf den Fluren der Geburtenabteilung des Spitals Herisau, nachdem sie ihre nassen Regenmäntel an Infusionsständern aufgehängt haben. Ein Schauspieler-Duo liest erstmals ausgewählte Szenen aus dem neu gegründeten Archiv für Vätergeschichten. Als Schauplatz dient eine Wochenbettstation, wo neben Kindern und Müttern auch Väter auf die Welt kommen. Unvergesslich, wie Kindergeschrei aus den Kindern die Lesung akustisch untermalen. 12 Jahre später besteht das Archiv für Vätergeschichten aus über 300 Szenen, die auf eindrückliche Art illustrieren, wie sich das Bild des Vaters im Laufe der Zeit verändert hat. Anfangs Jahr ist die Leitung des Archivs für Vätergeschichten von Mark Riklin auf Marcel Kräutli, Väterberater beim Ostschweizer Verein für das Kind, übergegangen – eine ideale Besetzung,  herzlich willkommen!

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