„Vätergeschichten“ besteht aus Fingerabdrücken von Vater-Kind-Beziehungen.

Grundidee

„Vätergeschichten“ besteht aus Fingerabdrücken von Vater-Kind-Beziehungen. (Corinne Bromundt, Illustratorin)

Im Auftrag von FamOS (Familien Ost-Schweiz) und männer.ch entwickelte Mark Riklin, Begründer der „Meldestelle für Glücksmomente“, anlässlich des 6. Vätertags 2012 das Projekt “Vätergeschichten“: Männer, Frauen und Kinder erzählten in öffentlichen Schreibstuben und ausgewählten Unternehmen von ihren Erinnerungen an ihre Väter, Grossväter oder an ihr Vatersein. Bis zum Vätertag 2013 ist ein Archiv aus 200 Szenen entstanden. “Vätergeschichten“ ist auf mehrere Jahre angelegt und verfolgt den Ansatz Väterlichkeit sowohl in der Öffentlichkeit als auch in Betrieben an kleinen Geschichten zu veranschaulichen. Dadurch soll ein Gegenpol zur problemorientierten Darstellung von Väterlichkeit entstehen. Biografische Erinnerungen korrigieren stereotype Bilder, zeigen die Vielfalt von Väterlichkeit und regen an, sich Zeit fürs Vatersein zu nehmen.

Aus dem Geschichtenarchiv

Kissenschlacht

Ich sitze im riesigen Wohnzimmer unseres Ferienhauses und warte ungeduldig auf meinen Vater. Seit er vor vier Jahren nach Spanien zurückgekehrt ist, sehe ich ihn nur noch in diesen zwei Wochen. Er arbeitet im Service und wird erst spät nach Mitternacht heimkommen, weder das Fernsehprogramm noch die Gespräche all meiner spanischen Verwandten, die sich jeden Sommer in diesem Haus einfinden, können mich in meiner freudigen Ungeduld ablenken. Als mein Vater endlich kommt, stürzen wir uns in unser allabendliches Ritual, das wir in diesen zwei Wochen jeweils haben. Manchmal spielen wir im Wohnzimmer Volleyball oder Fussball, heute steht eine Kissenschlacht auf dem Programm. Nach einer halben Stunde intensiver Ausgelassenheit setzen wir uns erschöpft zu meinen Verwandten. Obwohl mich ihre Gespräche noch immer nicht wirklich interessieren, setze ich mich neben meinen Vater. In diesem Moment bin ich einfach nur glücklich.

  • Tochter: 1993, Fachfrau Betreuung
  • Vater: 1968, Servicefachmann
  • Jahr der Szene: 2006, Granada

Selbstbestimmter Abschied

Ich erinnere mich noch der frühen 60er-Jahre, stolz neben dem Chauffeur eines Saurer-Lastwagens sitzend. An schulfreien Nachmittagen durfte ich meinen Vater beim Ausliefern von Mehl und Tierfutter öfters als Beifahrer begleiten. Es war etwas Besonderes für mich, ihm zuzusehen, wie leidenschaftlich und aufmerksam er sein Gefährt lenkte und pflegte. Nach 44 Jahren wurde er mit einem Dankeschön in den Ruhestand entlassen, um fortan mit leichteren Autos auf der Strasse unterwegs zu sein. Dass er im Februar 2016 nach 75 unfallfreien Jahren selber entschieden hat, den Ausweis dem Strassenverkehrsamt zurückzugeben, hat mich berührt. Es war einer der seltenen Momente, in denen ich Tränen in seinen Augen sah. Ich bin stolz auf meinen Vater!

  • Vater: 1921, Lastwagen-Chauffeur
  • Sohn: 1950, Linien-Pilot
  • Jahr der Szene: 2016

Der kleine Archivar

Ich bin in einer Bibliothek aufgewachsen. Es gab kaum eine Wand in unserem Haus, an der nicht ein Regal steht, voll mit Büchern vom Boden bis zur Decke. Selbst im Keller standen Regale, die einem umfangreichen Zeitschriften-Archiv dienten. Als Politikwissenschaftler hatte mein Vater die wichtigsten Fachzeitschriften abonniert. Die verarbeiteten Ausgaben stapelte er jeweils auf einem extra Ablagetischchen links neben dem Schreibtisch. Mit 11 oder 12 Jahren habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, die Rolle als Archivar zu übernehmen, die Zeitschriften in den Keller zu tragen und dort einzuordnen. Eine Aufgabe, die mir grossen Spass machte. Heute noch sehe ich einzelne Titel vor mir: Zeitschrift für Politik und Zeitgeschichte, Schweizer Monatshefte, „Eine Welt“ – das Magazin der DEZA usw.

  • Sohn: 1965, Journalist
  • Vater: 1935, Politikwissenschafter
  • Jahr der Szene: 1975

Das Vätergeschichten-Feuer weitertragen

Liebe Leser:innen

Zwei Jahre sind es her, seit ich das erste Mal mit dem Archiv für Vätergeschichten in Kontakt kam. Ich durfte eine Vätergeschichtensammlung & -lesung rund um das Fest der Kulturen in St. Gallen organisieren.

Das Thema liess mich seither nicht mehr los. Zum einen beruflich, als Väterberater beim Ostschweizer Verein für das Kind, und zum anderen als Vater und Bezugsperson von drei Kindern, welche ich beim Aufwachsen begleite.

Geschichte und Geschichten begleiten mich, seit ich denken kann. Geschichte war mein Lieblingsfach in der Schule. Ich liebe es noch heute zu lesen und dadurch in andere Welten ein- und abzutauchen.

Ich bin überzeugt, dass das Erzählen von Geschichten – sogar schon vor der Geburt – eine wertvolle Grundlage für die Vater-Kind-Bindung schafft. Es eröffnet auch immer wieder besondere Momente der Zweisamkeit und bereichert damit sowohl das Vater- als auch das Kindsein. Im Wissen, dass das Erzählen von Geschichten bisweilen ziemlich fordern kann. Bei mir zum Beispiel dann, wenn das eine Kind immer genau die eine – wirklich partout keine andere – Geschichte erzählt haben will und auch keine – noch so kleine – Abänderung toleriert. Oder das andere Kind keine vorgelesenen Geschichten akzeptiert und in ihren Worten, «Gschichte usem Muul» (als Begriff für «frei erfundene Geschichten») hören möchte.

Überzeugt davon, dass es nicht die eine Väterlichkeit, sondern eben viele Formen von Väterlichkeit(en) gibt, bin ich beruflich sehr neugierig darauf zu hören, wie Väterlichkeit erinnert wird. Der Frage nachzugehen, ob es generationelle und kulturelle Unterschiede gibt, oder vielmehr herauszufinden, wo die Gemeinsamkeiten liegen, reizt mich.

Darum freue ich mich sehr, das Vätergeschichten-Feuer von Mark Riklin übernehmen zu dürfen.

Ich bin geehrt und dankbar, dieses Feuer weitertragen zu dürfen. Die Glut zu hüten, von Zeit zu Zeit zu schüren und mit neuen, inspirierenden Geschichten lebendig zu halten.

Ich freue mich auf diesen Weg, viele spannende Begegnungen und noch mehr bereichernde Geschichten!

Herzliche Grüße
Marcel Kräutli

Marcel Kräutli ist neuer Leiter des Archivs für Vätergeschichten

Ein Sonntag im Juni 2013. Dicht gedrängt sitzen die Besucher:innen am nationalen Vätertag auf den Fluren der Geburtenabteilung des Spitals Herisau, nachdem sie ihre nassen Regenmäntel an Infusionsständern aufgehängt haben. Ein Schauspieler-Duo liest erstmals ausgewählte Szenen aus dem neu gegründeten Archiv für Vätergeschichten. Als Schauplatz dient eine Wochenbettstation, wo neben Kindern und Müttern auch Väter auf die Welt kommen. Unvergesslich, wie Kindergeschrei aus den Kindern die Lesung akustisch untermalen. 12 Jahre später besteht das Archiv für Vätergeschichten aus über 300 Szenen, die auf eindrückliche Art illustrieren, wie sich das Bild des Vaters im Laufe der Zeit verändert hat. Anfangs Jahr ist die Leitung des Archivs für Vätergeschichten von Mark Riklin auf Marcel Kräutli, Väterberater beim Ostschweizer Verein für das Kind, übergegangen – eine ideale Besetzung,  herzlich willkommen!

Vätergeschichten aus aller Welt

Donnerstagabend in einem St.Galler Hinterhof. «My father is my foundation. His values, his culture and his way of life have shaped me», beginnt die Erinnerung an einen indischen Vater, die anlässlich der musikalischen Lesung «Vätergeschichten aus aller Welt» verlesen wird. Auf Wunsch des Erzählers wird die Hommage an seinen Vater gefilmt und nach Delhi gesandt. Als Dank und Würdigung seiner Unterstützung und Verlässlichkeit.

Teilen Sie Ihre Geschichte

*“ zeigt erforderliche Felder an